Seitdem ich keinen Hochleistungssport mehr betreibe, kann ich trainieren wann, wo und wie ich will. So wie gestern. Die Lust war zugegebenermaßen nicht sehr groß. Der Karsamstag hatte mit Regen begonnen, bis die Sonne schließlich gegen 11 Uhr die Wolken niederrang – um dann gleich wieder zu verschwinden. Der April macht eben, was er will.
Mein Besuch in Vorpommern verwandelte sich rasch in einen gut schmeckenden Kalorienbombenhagel. Nach dem fischreichen Vortag wechselten die Bewohner des geteilten Landes wieder zu ihrer liebsten Speise: Fleisch, in allen Formen und Zubereitungsarten. Da konnte die logische Schlußfolgerung nur lauten: Rauf aufs Rad. Das Wetter schlug immer noch Kapriolen.
Doch bekanntlich gibt es kein schlechtes Wetter, nur falsche Kleidung. So schwang ich mich auf mein Kuota-Rennrad und radelte los. Das Unfeine – das wissen wahrscheinlich alle, die schon einmal bei über 30 Kilometer die Stunde bei Regen und Wind in die Pedale getreten haben – ist nicht der Regen, sondern der Wind. Diese urgewaltige Kraft, die das Wasser auf die Oberschenkel peitscht und einen fast vom Rad wirft.
Der Mensch hat seinen Schwerpunkt außerhalb seines Ichs
Da ich nicht wie früher auf Puls, Kilometer oder Zeit fahren muß, kann ich auch mal entspannt anhalten und Fotos schießen.
Durch die unendliche Ebene Vorpommerns ging es vorbei an mächtigen Eichen, alten Gutsherrenhäusern und Fachwerkkirchen. Letztere sind meistens evangelische und fast immer leere Gebäude. Mit der katholischen Kirche kommen die Vorpommern leider kaum in Berührung.
Da der Mensch ein transzendentes und kein immanentes Wesen ist, wird er sich immer zur Spiritualität hingezogen fühlen. Seinen Schwerpunkt soll er außerhalb seines Ichs haben. Das Göttliche wirkt tiefer als das Weltliche. Dies ist auch der Grund, warum totalitäre Systeme ihre Weltanschauungen immer als Religionsersatz zu etablieren versuchen, was freilich auf Dauer nie gelingt.
Die DDR hat geistlich verbrannte Erde hinterlassen. Der sich in Europa ausbreitende Islam wird dort auf fruchtbaren Boden stoßen, wo die Religion bis ins hinterste Eck des Lebens zurückgedrängt worden ist. Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq betonte in seiner Dankesrede zum Frank-Schirrmacher-Preis:
„Was er (Maurice Dantec) von uns im Westen verlangt, ist, wieder zu denen zu werden, als die uns die Djihaddisten zu Unrecht beschreiben: uns wieder in Gekreuzigte zu verwandeln. Einzig eine spirituelle Macht wie das Christentum oder das Judentum wäre seiner Meinung nach imstande, mit einer anderen spirituellen Macht wie dem Islam zu kämpfen.“
Ich fürchte, er liegt damit richtig. Allerdings glaube ich auch: wir dürfen uns heute keine großen Hoffnungen auf eine Massenkirche machen. Insbesondere die in der DDR großgewordenen Generationen werden so schnell keinen Zugang mehr zur Kirche finden. Das ist aber kein Grund zur Resignation.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. mahnte bereits 1996 im Gespräch mit Peter Seewald an:
„Vielleicht müssen wir von den volkskirchlichen Ideen Abschied nehmen. Möglicherweise steht uns eine anders geartete, neue Epoche der Kirchengeschichte bevor, in der das Christentum eher wieder im Senfkorn-Zeichen stehen wird, in scheinbar bedeutungslosen, geringen Gruppen, die aber doch intensiv gegen das Böse anleben und das Gute in die Welt hereintragen; die Gott hereinlassen. Ich sehe, daß hier wieder ganz viel Bewegung dieser Art da ist.“
Der Absturz der Kirche und des Christentums sei mit schuld an den „seelischen Zusammenbrüchen, an den Orientierungsschwierigkeiten, an den Verwahrlosungen, die wir beobachten“. Man müsse von den quantitativen Erfolgsmaßstäben absehen.
„Wir sind eben kein Geschäftsbetrieb, der an Zahlen messen kann, jetzt haben wir eine erfolgreiche Politik gemacht und verkaufen immer mehr. Sondern wir tun einen Dienst, den wir dann letztlich dem Herrn in die Hände geben. Aber es ist andererseits doch auch nicht so, daß es ganz ins Leere hineingeht. Es gibt ja auch gerade unter jungen Menschen in allen Kontinenten Aufbrüche des Glaubens.“
Ein Bekannter fragte gestern in der Runde, warum denn zu Ostern keine Lieder gesungen würden, wo es doch das höchste Fest im Kirchenjahr sei. Im Gotteslob finden sich rund zwanzig Seiten mit Ostergesängen, von denen wir beim Gottesdienst heute vier sangen, angeleitet von einem polnischen Priester.
In einer Gemeinschaft gibt es immer auch eine kleine Minderheit, die religiös kaum ansprechbar ist. „Genauso wie es von Geburt an Taube, Blinde und Gelähmte gibt, die herzlich zu bedauern sind“, schrieb der Wahl-Tiroler und Universalgelehrte Erik von Kuehnelt-Leddihn. Sind es aber viele, dann gibt es auch ein Problem hinsichtlich der aktuellen politisch-gesellschaftlichen Fragen.
Donoso Cortes erklärte mit seinem zweiarmigen politischen Barometer, der staatliche Druck steige bei Verminderung des religiösen. Das gilt freilich auch umgekehrt. „In einem Volk von hundertprozentigen Christen könnte die Tyrannis keine 24 Stunden dauern“ (Kuehnelt-Leddihn).
Ohne Glaubensgrundlage gibt es keine für das Gewisse bindende Ethik
Ohne religiöse Grundlage gibt es auch keine für das Gewissen bindende Ethik und Moral. Diese Notwendigkeit erkannte auch Napoleon: „Mir ist es lieber, daß die Kinder in den Händen eines Mannes sind, der seinen Katechismus kennt, als eines Viertelintellektuellen, der keine Grundlagen für seine Moral und keine festen Prinzipien besitzt. Die Religion ist der Impfstoff für die Phantasie, sie behütet sie vor allen gefährlichen und absurden Ideen. Es genügt, wenn ein christlicher Schulbruder dem Mann aus dem Volk sagt ‚Dieses Leben ist nur ein Übergang‘. Wenn man dem Volk den Glauben nimmt, wird man schließlich nichts als Schwerverbrecher haben!“
Ein zunehmend atheistischeres Volk wird auf den staatlichen Druck nicht mit religiösem antworten, sondern mit noch mehr Staat. Bis hin zu einem semi-totalitären Staat ist es dann nicht mehr weit. In der Zwischenzeit fahre ich mit dem Rennrad hinaus und genieße Gottes Schöpfung.
Danke für diesen schönen Text. Allerdings sehen Sie die Entwicklung viel positiver als ich es tue.